Schattenträume

Die Landstraße zog sich zwischen Hügeln hindurch, links und rechts grüne Schafweiden, ein paar kleine Waldstücke. Am Himmel hing eine fast durchgängige Wolkendecke. Die untere Schicht war grau und trüb, doch darüber brach das Sonnenlicht gleißend durch strahlend weiße Wolken, zwischendurch ließ sich sogar das ein oder andere Stück des blauen Himmels erspähen.

Es hatte geregnet, das Geräusch von Gummireifen auf nassem Asphalt war unverkennbar und selbst über das Dröhnen des Busmotors noch gut zu vernehmen.

Lowri hatte ihren Kopf an das Fenster gelehnt, ihre Augen folgten der vorbeiziehenden Landschaft. Nur noch wenige Meilen trennten sie von ihrer Heimatstadt Llanfrannoc im nordöstlichen Wales. Sie freute sich darauf, aus dem stickigen Bus auszusteigen, freute sich auf eine Tasse Tee in der heimischen Küche, während sie auf den kleinen Obstgarten hinausschaute, und freute sich auf das Wiedersehen mit ihrem Vater. Sie war gespannt auf sein Gesicht, wenn sie vor ihm stehen würde. Eigentlich war verabredet, dass er sie morgen abholen kam. Sie hielt es jedoch für besser, wenn er nicht auf ihre Mitbewohnerinnen stieß. Nicht, dass eine von ihnen sich noch verplapperte. Es würde auch so schon schwer genug werden, ihm die Wahrheit zu erzählen.

(mehr …)

Der Geist des Herrn Mattausch

„Der Geist des Herrn Mattausch“ ist eine dieser vielen Geschichten, die ich begonnen, aber nie beendet habe. Irgendwann habe ich mir mal einen Spaß daraus gemacht, den Anfang zu vertonen. Seitdem denke ich, es gäbe bestimmt ein ganz gutes Hörspiel ab… ich müsste es nur noch schreiben.

Rauhnacht

Der Schnee unter ihren Füßen knirschte mit jedem Schritt, den sie in die vom Mond schwach erleuchtete Nacht tätigte. Es war das einzige Geräusch, das die fortwährende Stille durchschnitt. Sie fröstelte und zog ihren Mantel mit der freien Hand weiter zu. In der anderen hielt sie die kleine Laterne, die sie vom Fensterbrett der Küche genommen hatte, als sie sich aus dem Haus geschlichen hatte. Jedes Knarzen der Dielen oder Türen hatte sie erschrocken innehalten lassen. Doch ihre Eltern und Brüder waren nicht aufgewacht, nicht einmal, als sie versehentlich eine der großen metallenen Milchkannen neben der Haustür umgeworfen hatte.

Ihr Herz klopfte in einem unaufhörlich schneller werdenden Takt, während ihre Schritte sich ebenfalls beschleunigten. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, um die Wegkreuzung am Waldrand zu erreichen, von der ihre Freundinnen ihr erzählt hatten.

(mehr …)

Limbus

Es war ein kalter, regnerischer Donnerstag im Oktober, als Hanna das letzte Mal gesehen wurde.

Sie trug dunkle Jeans und eine altrosafarbene Chiffonbluse, darüber den langen schwarzen Herbstmantel, den Valerie mit ihr zusammen ausgesucht und ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie hatten eine kleine Bar am Stadtrand besucht, um auf die vergangenen und die kommenden siebenundzwanzig Jahre anzustoßen. Nach dem Verlassen der Bar hatte Valerie sie umarmt und ihr einen Abschiedskuss auf die Wange gehaucht, bevor sie beide ihrer Wege geangen waren. Hätte sie auch nur geahnt, dass es das letzte Mal sein würde, dass sie ihre Freundin umarmte, hätte sie sie länger festgehalten.

(mehr …)